“Modediagnose Asperger”, aber 

Betroffene mit schwerem Autismus 

im Schatten

Herr Prof. Dr. Mathias Dose hat vor kurzem einen eindrucksvollen Artikel zum Thema “Wunschdiagnose bzw. Modediagnose Autismus bei Erwachsenen” geschrieben, in dem er darauf hingewiesen hat, dass die Diagnose “Asperger” in den letzten Jahren eine „In“-Diagnose geworden ist, hinter der sich oft ganz andere psychische Probleme verbergen (Dose, 2021). Es ist erfreulich, dass die öffentliche Diskussion über das obere Ende des Autismus Spektrums diese Diagnose bekannter gemacht hat und zu mehr Toleranz für Andersartigkeit geführt hat.  Andererseits ist aber dabei das untere Ende des Spektrums in Vergessenheit geraten.  Wie schwerer Autismus aussehen kann wird am Ende des Blogs durch einen schwer zu ertragender Film und die Kommentare von Eltern und Kollegen deutlich. Ein weiterer link zeigt eindrucksvoll die Situation von Familien von Betroffenen mit verschiedenem Unterstützungsbedarf in Singapur. 

Dieses trifft besonders für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu, die wenig oder nicht-verbal sind und in ihrem Sozialverhalten und ihrer Selbständigkeit erheblich eingeschränkt sind. Diese Gruppe ist im Laufe der Erstbeschreibung durch Kanner 1943 zunehmend in den Hintergrund gedrückt und spielt in der öffentlichen Diskussion leider eine untergeordnete oder keine Rolle mehr. 

 

Erwachsene mit Depression, Angst oder Zwangsverhalten suchen zunehmend Praxen von Psychiatern und Psychologen auf, um sich den Mantel “Asperger” umhängen zu können. Dabei ist diese Diagnose auch durchweg mit einem positiven Image verbunden von “high functioning” Intelligenz, Sonderbefähigung und Zugehörigkeit zur Gruppe derjenigen, die Akzeptanz für ihre ungewöhnlichen Verhaltensweisen und Respekt für ihre besonderen Fähigkeiten bekommen sollten. 

Auch die Nähe zu “Genies mit Inselbegabung” hat die Diagnose sicher populär gemacht. Wer will nicht mit Albert Einstein, Wolfgang Amadeus Mozart, Elon Musk, Bill Gates oder Greta Thunberg in einem Atemzug benannt werden? Allerdings richtet sich deren Diagnose nicht unbedingt nach den strengen diagnostischen Kriterien der DSM/ICD, sondern bezieht sich vor allem auf einzelne Merkmale, die sie mit der Autismus Spektrum Störung teilen. Betreffende suchen und finden im Internet verschiedene Autismus Skalen, die eine schnelle, aber oberflächliche Selbstdiagnose ermöglichen (Dose, 2021). Diese kann einen Schonraum oder sogar neue berufliche Perspektiven mit sich bringen durch frühe Berentung oder aber publikumswirksame Auftritte als Redner, Berater oder Autoren. 

 

Die Diagnose von Asperger bei Erwachsenen ist schwierig und sollte nur von erfahrenen Psychiatern bzw. Psychologen gestellt werden. Nach Möglichkeit muss hierbei auch die Entwicklungsgeschichte, das frühe Verhalten im Elternhaus und der Schule sowie alternative Diagnosen wie Hochbegabung, ADHS, Depression, Angst oder auch Mutismus berücksichtigt werden. 

 

Auch handelt es sich beim Asperger-Syndrom keineswegs um eine Art „Autismus light“. Es ist bereits in der ICD-10 festgehalten, dass wie beim frühkindlichen Autismus auch beim Asperger-Syndrom eine Störung der sozialen Interaktion und ein eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten für eine Diagnose notwendig ist. Der einzige Unterschied zwischen beiden Diagnosen ist das Fehlen einer allgemeinen, sprachlichen oder kognitiven Entwicklungsverzögerung am oberen Ende des Spektrums. Dementsprechend wird in DSM-V (und ICD-11 wird dem folgen) betont, dass die Unterscheidung der einzelnen Autismus-Formen sich überwiegend an der sprachlichen und kognitiven Entwicklung orientiert. Das Ausmaß des notwendigen Unterstützungsbedarfs in diesen Bereichen ist dabei für die Therapie und die Prognose zentral. 

 

Eine Wunschdiagnose „Asperger“ ist aus Sicht der Betroffenen verständlich, hat allerdings zu einer Verzerrung des öffentlichen Bilds von Autismus geführt. Mittlerweile wird in den sozialen Medien betont, dass Autismus keine Störung ist, sondern im Rahmen der allgemeinen Diskussion um Neurodiversität als „Besonderheit des Seins“ angesehen werden muss.  Statt Hilfe, Behandlung und Therapie werden nun Akzeptanz und Toleranz der Betreffenden gefordert. Dabei wird speziell gegen Verhaltenstherapien, ABA/ AVT polemisiert (s. mein Blog Fakt und Fiktion zu ABA/AVT). Dabei ist der Wunsch nach einem störungsfreieren Leben auch für viele mit der realen Diagnose ungebrochen, sei es um den Umgang mit der Andersartigkeit, den Ängsten oder der Depression durch eine Kognitive Verhaltenstherapie oder ein Sozialtraining fertig zu werden oder aber um durch eine Lerntherapie neue Verhaltensmuster zu erwerben. Leider hat jedoch das verzerrte Bild des Spektrums autistischer Beeinträchtigungen dazu geführt, dass Betroffene mit einer bestätigten Diagnose sowie ihre Familien zunehmend schwerer Hilfen bekommen. 

 

Mittlerweile setzen sich Kollegen und Eltern verstärkt dafür ein, dass auch Betroffene mit schwerstem Autismus angemessene Therapien, Beschulung, Arbeit und Unterbringung erhalten. In einem eindrucksvollen Film mit zahlreichen Kommentaren von Eltern, Lehrern und Therapeuten machen sie auf ihr Anliegen aufmerksam. Auch wenn der folgende Film schwer zu ertragen ist, sollte er verbreitet werden, allein schon, um das weite Spektrum des Autismus zu zeigen, aber auch um effektive Hilfen für diese Gruppe zu ermöglichen. Diese sollte selbstverständlich ein Verständnis der Probleme sowie eine Akzeptanz der Person beinhalten, aber dabei wirksame Therapien nicht ausschließen. Auch die Situation der Familien sollte bei jungen und älteren Betroffenen berücksichtigt werden, wie der zweite Link eindrucksvoll zeigt. 

Referenz

Dose, M. (2021) Wunschdiagnose bzw. Modediagnose „Autismus bei Erwachsenen“, AutismusSpektrum.info