Blog: Empathie-Spektrum und was tun bei Problemen
mit dem Einfühlen und Eindenken in andere?
Vera Bernard-Opitz
Systematiker statt Empathiker
Vielen Betroffenen mit Autismus fällt es schwer, Gesichter, Mimik und Körperpositionen des anderen zu verstehen. Auch können sie sich meist nicht in die Bedeutung des Blicks, das Vorwissen, Denken und Annahmen des Gesprächspartners eindenken. Demgegenüber zeigen sie mehr Interesse an Objekten, Fakten, Routinen, Regeln oder Systemen als am Gegenüber und der sozialen Interaktion.
Die Liste der Beispiele könnte endlos fortgesetzt werden, aber sie macht deutlich, dass das Interesse an Interaktion bei manchen Betroffenen ungenügend ist sowie das Eindenken in andere schwerfällt. Demgegenüber haben sie oft überdurchschnittlich gute Fähigkeiten im Erkennen von Mustern, Regeln und vorhersehbaren Abläufen. Auf diese Weise haben viele Menschen am oberen Ende des Spektrums zu Entwicklungen im Bereich der Technik, Computersysteme, des Ingenieurwesens oder auch der Kunst beigetragen. Sie gelten als sog „Systematiker“. Dinge sollten an der gleichen Stelle sein und gleiche Abläufe sollten eingehalten werden. Sie erinnern an Regeln und Moral, selbst wenn das Ärger einbringt (Baron-Cohen, 2017).
Empathie-Spektrum
Empathie Verteilung, Baron-Cohen (2011)
In der Bevölkerung ist Empathie normal nach einer Glocken-Kurve verteilt, wobei sich an einem Endpunkt Menschen mit extrem wenig Empathie befinden und an dem anderen Ende der Verteilunghoch empathische Menschen sind.
Empathie-Gene
Untersuchungen haben bestätigt, dass neuronale Empathie-Netzwerke sich auf einer genetischen Basis entwickeln. In einer Studie von 742 neurotypischen Zwillingen war affektive Empathie zu etwa 52-57% angeboren, während kognitive Empathie zu etwa 27% angeboren war (Melchers et al., 2016). Wir können also davon ausgehen, dass die Entwicklung von affektiver als auch kognitiver Empathie sowohl von Genen als auch von der Umwelt beeinflusst werden kann. Hier können frühkindliche Eltern-Kind-Interaktionen oder auch Frühtherapien einen positiven Einfluss haben. Da sich Empathie im Laufe des Lebens verändert, ist es auch in späteren Lebensphasen möglich, das Eindenken in andere zu einem Ziel zu machen. Und das kann ja auch für Menschen mit Autismus zutreffen.
Neben einer kognitiven und einer emotionalen Seite kann auch motorische Empathie eine Rolle spielen. Hierzu gehört sowohl das Nachahmen des Gegenübers als auch die Synchronisierung von Mimik, Gestik und Körperhaltung mit dem Gegenüber (Dziobek et al, 2008). Diese beruhen auf einer Aktivität der Spiegelneuronen, einer weiteren wichtigen Komponente von sozialem und empathischem Verhalten. Es ist richtungsweisend, dass Imitation und gemeinsamer Blick als Schlüsselverhaltensweisen für Kommunikation und Sozialverhalten angesehen werden. Daher spielen sie in der Frühintervention bei Kleinkindern mit Autismus und auch in späteren Lebensphasen eine zentrale Rolle.
"Kann Kuckuck-Bah die Welt retten?"
Die 7-jährige Molly Wright hat zu diesem Thema einen Vortrag gegeben, der mit 50 Millionen Views der beliebteste Vortrag der bekannten TED Talk Serie wurde.
https://www.ted.com/talks/molly_wright_how_every_child_can_thrive_by_five. Ihre eindrucksvoll dargestellte Botschaft ist einfach: Eltern und Betreuer beeinflussen die frühe Hirnentwicklung von Kleinkindern durch Interaktionsspiele wie „Kuckuck-Bah“. Das Ignorieren der Bedürfnisse und der Initiative der Kinder durch interferierenden Medienkonsum oder Desinteresse der Eltern wirkt sich negativ auf die Kinder aus und kann langfristig auch die zukünftige Gesellschaf beeinflussen.
Sicher kann man aus den Ausführungen der kleinen Molly keinen direkten Rückschluss ziehen auf die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen oder die Zunahme an Autismus in den letzten Jahrzehnten. Wie betont spielen genetische Ursachen bei der Entwicklung von Empathie eine wichtige Rolle. Aber die Hinweise treffen einen wunden Punkt: dass frühe Interaktion zentral ist für eine gesunde Gehirnentwicklung und dass diese oft ignoriert wird. Die allgemeine Hektik und der zunehmende Medien-Konsum lassen so oft keine Zeit für emotionalen Austausch, Interaktions- und Fantasiespiele.
Therapieziel: Emotionale Empathie
Bereits zu Beginn unserer Arbeit mit jungen Kindern mit Autismus im Singapurer Step-Programm („Structured Teaching for Exceptional Pupils“) standen einfühlende Interaktionen, das Spiegeln von Mimik und Körperhaltung, übertriebenes Lob sowie das emotionale Lernen im Vordergrund. Was ist die aktuelle Befindlichkeit des Kindes und was sind seine/ihre Interessen und Motive? Was macht ihm/ihr Spaß und was sind funktionale Lernziele? So wurden zum Beispiel bei Kreisspielen Sprachlieder eingesetzt, um die spontane Bewegung eines Kindes von allen imitieren zu lassen.
Emotionale Reziprozität, motivierende Aufgaben sowie emotionales Lernen sind auch weiter zentrale Bestandteile von guten ABA/AVT-Programmen. Hierbei wird zunehmend mehr die Wichtigkeit von Gefühlen sowie das Einnehmen der sozialen Perspektive betont.
Therapieziel: Einnehmen der sozialen Perspektive
Es ist in der Therapie nicht einfach, Trainingsprogramme für emotionale und kognitive Empathie zu trennen und man kann sich fragen, ob der Begriff der „sozialen Empathie“ nicht ausreichen sollte (Dirlich-Wilhelm, mündliche Mitteilung). Sicher ist es besonders in späteren Altersstufen schwierig, Mitgefühl beizubringen. Andererseits kann man kognitive Empathie gezielt anregen und erwartetes Sozialverhalten in einer Vielzahl von Sozialsituationen zeigen, damit es Betroffene auf diese Weise einfacher haben.
Neben strukturierten Programmen zum Erkennen und Benennen von Gefühlen, Mimik, Gestik und sozialen Situationen können auch Rollenspiel mit Puppen und Tieren sowie Videomodellierung dazu beitragen, von der Perspektive des „Ichs“ zu der eines Gegenübers zu kommen.
Auch kognitive Verhaltensmodifikation kann durch verschiedene Strategien helfen. Hierbei können festgefahrene „Ich“-Perspektiven, irrationale Gedanken und Stressintoleranz im Zentrum stehen.
Sicher ist es ein naiver Kindertraum durch Interaktionsspiele mit Kleinkindern die Welt zu retten. Allerdings ist die Betonung von frühkindlicher Interaktion, Empathie und emotionaler Intelligenz in der Therapie, Erziehung und sicher auch der Politik zentral für ein zufriedenes Leben und ein friedliches Miteinander. Beobachtungen, Befragungen und Eindenken in das Gegenüber sollten für ABA- und Kognitive Therapeuten eine Selbstverständlichkeit sein. Nur so scheint es möglich, dass auch das Kind, der Jugendliche und der Erwachsene mit Autismus sich verstanden fühlt.
Hier können auch Menschen, die auf dem Autismus-Spektrum liegen, wie Greta Thunberg Wegweiser sein. Und selbst die 7-jährige Molly Wright kann durch ihr bewundernswertes Engagement für die Wichtigkeit frühkindlicher Interaktion zum Nachdenken anregen.
Das folgende Beispiel zeigt, dass ein gezieltes Training die Kommunikation für Menschen mit und ohne Autismus erleichtern kann:
Anfragen zur Literatur können an folgende E-Mail geschickt werden: verabernard@gmail.com