Blog: Empathie-Spektrum und was tun bei Problemen

mit dem Einfühlen und Eindenken in andere?

Vera Bernard-Opitz

Systematiker statt Empathiker

Vielen Betroffenen mit Autismus fällt es schwer, Gesichter, Mimik und Körperpositionen des anderen zu verstehen. Auch können sie sich meist nicht in die Bedeutung des Blicks, das Vorwissen, Denken und Annahmen des Gesprächspartners eindenken. Demgegenüber zeigen sie mehr Interesse an Objekten, Fakten, Routinen, Regeln oder Systemen als am Gegenüber und der sozialen Interaktion.

  • So benutzt Tim die Hand seiner Mutter wie die Verlängerung seiner eigenen, um so an sein geliebtes Auto auf dem Regal zu kommen. Er gebraucht sie wie ein Werkzeug und beachtet nicht, dass sie seiner Mutter gehört. 
  • Der 4-jährige Daniel redet selbst im Pool mit seinem Vater von schwarzen Löchern und Lichtbrechungen und ignoriert dabei das Wasserspiel der anderen Kinder.  
  • In der Pause rennt Tanja mit dem Kopf nach unten zur Schaukel und oft in andere Kinder hinein, ohne diese zu beachten. 
  • Im Aufzug ist eine hoch schwangere Frau, die sehr verstört auf den 8-jährigen Andre reagiert, der in ihren Bauch piekt und fragt, ob da ein Baby drin ist. 
  • Robert versteht nicht, warum seine Monologe über Rohrleitungen nicht ankommen und seine Klassenkameraden sich von ihm abwenden.
  • Der erwachsene Jens läuft in Geschäfte, um zu sehen, wo es einen Putzraum gibt in dem er die geliebten Einmalhandschuhe finden kann. Hierbei ignoriert er völlig die perplexe Mimik des Personals.
  • Auf die Frage, wie das Bewerbungsgespräch zum Computerfachmann gelaufen ist, beschreibt Stefan, dass es Stühle in dem Zimmer gegeben habe und die Leute sich gesetzt hätten. Er geht davon aus, dass das Gegenüber vergleichbare Bilder im Kopf hat wie er selbst und weiß nicht, was an seinem Erlebnis für den Zuhörer relevant ist.

Die Liste der Beispiele könnte endlos fortgesetzt werden, aber sie macht deutlich, dass das Interesse an Interaktion bei manchen Betroffenen ungenügend ist sowie das Eindenken in andere schwerfällt. Demgegenüber haben sie oft überdurchschnittlich gute Fähigkeiten im Erkennen von Mustern, Regeln und vorhersehbaren Abläufen. Auf diese Weise haben viele Menschen am oberen Ende des Spektrums zu Entwicklungen im Bereich der Technik, Computersysteme, des Ingenieurwesens oder auch der Kunst beigetragen. Sie gelten als sog „Systematiker“. Dinge sollten an der gleichen Stelle sein und gleiche Abläufe sollten eingehalten werden. Sie erinnern an Regeln und Moral, selbst wenn das Ärger einbringt (Baron-Cohen, 2017). 

 

Empathie-Spektrum

 

 

 

Empathie Verteilung, Baron-Cohen (2011)

In der Bevölkerung ist Empathie normal nach einer Glocken-Kurve verteilt, wobei sich an einem Endpunkt Menschen mit extrem wenig Empathie befinden und an dem anderen Ende der Verteilunghoch empathische Menschen sind. 

Empathie-Gene

Untersuchungen haben bestätigt, dass neuronale Empathie-Netzwerke sich auf einer genetischen Basis entwickeln. In einer Studie von 742 neurotypischen Zwillingen war affektive Empathie zu etwa 52-57% angeboren, während kognitive Empathie zu etwa 27% angeboren war (Melchers et al., 2016). Wir können also davon ausgehen, dass die Entwicklung von affektiver als auch kognitiver Empathie sowohl von Genen als auch von der Umwelt beeinflusst werden kann. Hier können frühkindliche Eltern-Kind-Interaktionen oder auch Frühtherapien einen positiven Einfluss haben. Da sich Empathie im Laufe des Lebens verändert, ist es auch in späteren Lebensphasen möglich, das Eindenken in andere zu einem Ziel zu machen. Und das kann ja auch für Menschen mit Autismus zutreffen.

Neben einer kognitiven und einer emotionalen Seite kann auch motorische Empathie eine Rolle spielen. Hierzu gehört sowohl das Nachahmen des Gegenübers als auch die Synchronisierung von Mimik, Gestik und Körperhaltung mit dem Gegenüber (Dziobek et al, 2008). Diese beruhen auf einer Aktivität der Spiegelneuronen, einer weiteren wichtigen Komponente von sozialem und empathischem Verhalten. Es ist richtungsweisend, dass Imitation und gemeinsamer Blick als Schlüsselverhaltensweisen für Kommunikation und Sozialverhalten angesehen werden. Daher spielen sie in der Frühintervention bei Kleinkindern mit Autismus und auch in späteren Lebensphasen eine zentrale Rolle.

"Kann Kuckuck-Bah die Welt retten?"

Die 7-jährige Molly Wright hat zu diesem Thema einen Vortrag gegeben, der mit 50 Millionen Views der beliebteste Vortrag der bekannten TED Talk Serie wurde. 

https://www.ted.com/talks/molly_wright_how_every_child_can_thrive_by_five. Ihre eindrucksvoll dargestellte Botschaft ist einfach: Eltern und Betreuer beeinflussen die frühe Hirnentwicklung von Kleinkindern durch Interaktionsspiele wie „Kuckuck-Bah“. Das Ignorieren der Bedürfnisse und der Initiative der Kinder durch interferierenden Medienkonsum oder Desinteresse der Eltern wirkt sich negativ auf die Kinder aus und kann langfristig auch die zukünftige Gesellschaf beeinflussen. 

Sicher kann man aus den Ausführungen der kleinen Molly keinen direkten Rückschluss ziehen auf die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen oder die Zunahme an Autismus in den letzten Jahrzehnten. Wie betont spielen genetische Ursachen bei der Entwicklung von Empathie eine wichtige Rolle. Aber die Hinweise treffen einen wunden Punkt: dass frühe Interaktion zentral ist für eine gesunde Gehirnentwicklung und dass diese oft ignoriert wird. Die allgemeine Hektik und der zunehmende Medien-Konsum lassen so oft keine Zeit für emotionalen Austausch, Interaktions- und Fantasiespiele. 

 

Therapieziel: Emotionale Empathie

Bereits zu Beginn unserer Arbeit mit jungen Kindern mit Autismus im Singapurer Step-Programm („Structured Teaching for Exceptional Pupils“) standen einfühlende Interaktionen, das Spiegeln von Mimik und Körperhaltung, übertriebenes Lob sowie das emotionale Lernen im Vordergrund. Was ist die aktuelle Befindlichkeit des Kindes und was sind seine/ihre Interessen und Motive? Was macht ihm/ihr Spaß und was sind funktionale Lernziele? So wurden zum Beispiel bei Kreisspielen Sprachlieder eingesetzt, um die spontane Bewegung eines Kindes von allen imitieren zu lassen.

 

Emotionale Reziprozität, motivierende Aufgaben sowie emotionales Lernen sind auch weiter zentrale Bestandteile von guten ABA/AVT-Programmen. Hierbei wird zunehmend mehr die Wichtigkeit von Gefühlen sowie das Einnehmen der sozialen Perspektive betont. 

  • Sicher tragen “herzlose Therapien” wenig dazu bei, die emotionale Entwicklung von Kindern zu fördern. Spiegeln des Kindes, Vorspielen von Schmerz, Freude, Angst etc. und emotionales Eingehen sollten besonders in den frühen kritischen Perioden der Gefühlsentwicklung betont werden.
  • So setzen ABA-Programme wie das Early Start Denver Model (ESDM, Rogers & Dawson, 2010) oder das Pivotal Response Training (PRT-Training von Schlüsselverhaltensweisen) von Koegel und Schreibman frühkindliche Interaktionsspiele ein, um positive Beziehungen aufzubauen. Die Initiative des Kindes wird aufgegriffen, wobei neue Ziele in kleinen Schritten eingeführt werden. 
  • Vergleichbares gilt auch für Programme, die nach der ABA-Methode des Verbal Behavior arbeiten. Therapeuten versuchen zunächst über „pairing“ eine positive Beziehung zu dem Kind zu entwickeln. Sie gehen auch im Verlauf der Therapie sowohl auf das verbale wie nicht-verbale Verhalten der Kinder ein und erweitern gezielt Ansätze des Kindes zur Kommunikation (Barbara & Rasmussen, 2007).

 

Therapieziel: Einnehmen der sozialen Perspektive

Es ist in der Therapie nicht einfach, Trainingsprogramme für emotionale und kognitive Empathie zu trennen und man kann sich fragen, ob der Begriff der „sozialen Empathie“ nicht ausreichen sollte (Dirlich-Wilhelm, mündliche Mitteilung). Sicher ist es besonders in späteren Altersstufen schwierig, Mitgefühl beizubringen. Andererseits kann man kognitive Empathie gezielt anregen und erwartetes Sozialverhalten in einer Vielzahl von Sozialsituationen zeigen, damit es Betroffene auf diese Weise einfacher haben. 

 

Neben strukturierten Programmen zum Erkennen und Benennen von Gefühlen, Mimik, Gestik und sozialen Situationen können auch Rollenspiel mit Puppen und Tieren sowie Videomodellierung dazu beitragen, von der Perspektive des „Ichs“ zu der eines Gegenübers zu kommen. 

  • Das Einnehmen der Perspektive einer Puppe, die hingefallen ist und getröstet werden muss, eines Tieres, das Hunger hat und gefüttert werden muss oder selbst einer Pflanze, die verwelkt, können zur Entwicklung von Empathie beitragen.
  • Für junge Kinder sind "Integrierte Spielgruppen" entwickelt. bei denen sogenannte „Experten-Kinder“ aus den Selbststimulationen oder ungewöhnlichen Interessen des Kindes mit Autismus gemeinsame Spiele entwickeln (Wolfberg, 2019). 
  • Rollenspiel mit anderen Kindern oder Schauspiel in einer Gruppe von Jugendlichen haben sich ebenfalls als hilfreich gezeigt, um von der eigenen Innensicht in die „Schuhe eines anderen zu schlüpfen“ (Schmidt, 2018, Stefonek, 2016). 
  • Auch der Einsatz von Videomodellierung kann zum Training von sozialer Initiative, Gefühlsausdruck und kommunikativer Kompetenz beitragen (Nikopoulos, 2021).
  • Eine zusätzliche Strategie verfolgen wir mit dem Einsatz von Cartoons, Skripten und Videomodellierung.  Alltagsszenen werden hier als Cartoons dargestellt, die Betroffenen helfen, die Perspektive der anderen besser zu verstehen und weniger hilflos in verschiedenen sozialen Situationen zu sein (Bernard-Opitz, 2020 ).
  • Michelle Garcia Winner hat die Sozial- und Kommunikationsprobleme der Betroffenen treffend als „Soziale Perspektiven-Störung“ bezeichnet. Sie hat Trainingsprogramme entwickelt zum spielerischen Eindenken in den anderen als sogenannter „Sozialer Detektiv“.  Lernziele, wie soziale Aufmerksamkeit, soziales Problemlösen sowie Reflektieren über die Wirkung des eigenen Handelns auf den anderen werden anschaulich visualisiert (Garcia-Winner, 20017).  

Auch kognitive Verhaltensmodifikation kann durch verschiedene Strategien helfen. Hierbei können festgefahrene „Ich“-Perspektiven, irrationale Gedanken und Stressintoleranz im Zentrum stehen. 

  • Jed Baker hat in unserer AutismusKonkret Serie konkrete Strategien und Arbeitsblätter zum Erlernen von empathischem Zuhören und der Anteilnahme an den Gefühlen anderer aufgezeigt (Baker, 2017).
  • Auch Joel Shaul hat durch zahlreiche freie Materialien, Videos und Spiele visuelle Hilfen angeboten, damit Kinder und junge Erwachsene von 6 bis 18 Jahren sich und andere besser verstehen und sich besser fühlen (Shaul, 2020). 

Sicher ist es ein naiver Kindertraum durch Interaktionsspiele mit Kleinkindern die Welt zu retten. Allerdings ist die Betonung von frühkindlicher Interaktion, Empathie und emotionaler Intelligenz in der Therapie, Erziehung und sicher auch der Politik zentral für ein zufriedenes Leben und ein friedliches Miteinander. Beobachtungen, Befragungen und Eindenken in das Gegenüber sollten für ABA- und Kognitive Therapeuten eine Selbstverständlichkeit sein. Nur so scheint es möglich, dass auch das Kind, der Jugendliche und der Erwachsene mit Autismus sich verstanden fühlt. 

 

Hier können auch Menschen, die auf dem Autismus-Spektrum liegen, wie Greta Thunberg Wegweiser sein. Und selbst die 7-jährige Molly Wright kann durch ihr bewundernswertes Engagement für die Wichtigkeit frühkindlicher Interaktion zum Nachdenken anregen.

 

Das folgende Beispiel zeigt, dass ein gezieltes Training die Kommunikation für Menschen mit und ohne Autismus erleichtern kann:  

  • Ein Jugendlicher mit Autismus redet begeistert über seine Faszination mit Tropfsteinhöhlen und bemerkt gerade noch rechtzeitig, dass seine Gesprächspartner sich gelangweilte Blicke zuwerfen. Sein spontaner Kommentar: „Ach jeh, das war ein „Ich-Gespräch“ und ich wollte doch „Du-Gespräche“ machen“ ist sicher eine gute Lektion für viele von uns!

Anfragen zur Literatur können an folgende E-Mail geschickt werden: verabernard@gmail.com