Empathie-Spektrum und was tun bei Problemen mit dem Einfühlen und Eindenken in andere?

Vera Bernard-Opitz

Es ist offensichtlich, dass Empathie ein weites Spektrum umfasst. Wir begegnen immer wieder Menschen, die scheinbar kein Mitgefühl für andere haben – im Internet Hasstiraden verbreiten, in Schulen, Arbeitsplätzen und der Politik mobben und Leid zufügen. Man fragt sich, wo da die Empathie geblieben ist. Glücklicherweise gibt es demgegenüber Menschen, die alles tun, um anderen das Leben zu erleichtern, sei es in privaten Beziehungen oder als Einsatz für soziale oder gesellschaftliche Verbesserungen. Was aber ist die neurologische Basis von Empathie, und wie steht es damit bei Betroffenen mit Autismus? Trifft es zu, dass Menschen mit Autismus keine Gefühle für andere haben oder ist das ein Mythos und sie sind tatsächlich sehr einfühlsam? Was kann man tun, wenn es manchen von ihnen schwer fällt sich in den anderen einzudenken? 

Der bekannte Autismus Forscher Simon Baron-Cohen von der Cambridge University hat bei MRT-Untersuchungen herausgefunden, dass Empathie-Bereiche bei verschiedenen klinischen Gruppen unterschiedlich aktiviert werden. Nach klinischen Beobachtungen und MRT-Untersuchungen beschreibt er zwei Seiten der Empathie:

 

1) Affektive Empathie: mitfühlen, die Empfindungen des anderen neben den eigenen Gefühlen wahrnehmen.

2)  Kognitive Empathie: sich in jemanden eindenken, seinen Standpunkt, seine Sicht der Dinge wahrnehmen und die Welt aus seiner Perspektive sehen.

 

Zwischen diesen beiden neurologischen Netzwerken gibt es nach seinen Untersuchungen bei Menschen mit Autismus und Menschen mit Persönlichkeitsstörungen deutliche Unterschiede. Während Betroffene mit Autismus affektive Empathie zeigen, ist diese bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen unzureichend ausgebildet. Bei kognitiver Empathie ist es demgegenüber umgekehrt: hier zeigen neuronale Netzwerke weniger Aktivität bei Individuen mit Autismus als bei denen mit Persönlichkeitsstörungen (Baron-Cohen, 2017). Andere Forscher haben festgestellt, dass Alexithymie/Gefühlsblindheit, die verminderte Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu beschreiben, bei Untergruppen von Menschen mit Autismus beobachtet werden kann.  Diesen Personen fehlt ein Innenleben und sie können sich nicht auf ihre eigenen oder fremde Gefühle beziehen.  Brett & Maybery haben kürzlich (2021) die intensive Debatte über Empathie bei Autismus und die Rolle der Alexithymie  zusammengefasst.

 

 

Stärken bei affektiver Empathie 

Baron-Cohen betont, dass Teilnehmer mit Autismus bei Situationen, in denen Menschen leiden, betroffen reagierten: z.B. wenn eine Hand gezeigt wird, auf die ein Klavierdeckel schlägt. Nach MRT-Aufnahmen reagiert ihr Empathie-Bereich auf Fotos von derartigen Schmerz-Situationen mit Aktivierung. Dieses entspricht den Alltagsbeobachtungen: Oft versuchen bereits junge Kinder mit Autismus andere zu trösten oder ihnen zu helfen. Auch in späteren Altersstufen zeigen viele von ihnen Mitgefühl und es scheint bei Problemverhalten nicht ihre Absicht zu sein, andere zu enttäuschen oder zu verletzen. Der Mythos, dass alle Individuen mit Autismus gefühlslos sind, trifft nach obigen Untersuchungen nicht zu. 

 

Andererseits gibt es aber durchweg Jugendliche und Erwachsene, die beklagen, dass sie kaum Gefühle haben und daher auch nicht mit anderen mitfühlen oder mitleiden können. Eltern beschreiben das Fehlen von Mitempfinden als schmerzhaftes Manko.  

  • „Warum muss ich das wissen?“ war die Antwort eines Klienten auf meinen Versuch, aus einer schlimmen Begebenheit in seinem Umfeld eine emotionale Reaktion herauszubekommen?

 

Es stellt sich die Frage, ob dieser Klient zu der Untergruppe der betroffenen Personen gehört, die komorbid für Alexithymie sind. Eine alternative Erklärung könnte sein, dass er seine affektive Empathie aufgrund eines Kindheitstraumas (z. B. schweres Mobbing) verloren hat. Kann Empathie durch negative Lebensereignisse verloren gehen und kann sie durch eine Therapie wiedererlangt werden?

 

 

Probleme mit kognitiver Empathie

Möglicherweise ist es leichter kognitive Empathie gezielt zu fördern. Diese entwickelt sich normalerweise in Stufen ab dem ersten Jahr. So zeigen Kleinkinder mit Autismus oft nur, um etwas zu wünschen (sog. „protoimperatives Zeigen“), aber nicht, um auf etwas hinzuweisen (sog. „protodeklaratives Zeigen“). Sie machen hiermit auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam (Manding), sind aber eher nicht daran interessiert, anderen etwas zu benennen oder nach Dingen oder Begriffen zu fragen (Tacting). Im Gegensatz dazu  beschreiben und berichten neurotypische Kinder. Sie wissen intuitiv, dass ihr Interaktionspartner etwas Interessantes nicht gesehen hat und zeigen oder machen sogar Geräusche, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.  Das Zeigetraining ist daher in der Frühförderung von Kindern mit Autismus ein gutes Therapieziel. Es kann auch älteren, stärker beeinträchtigten Kindern helfen, ihre eingeschränkte Kommunikation zu überwinden. 

 

Anhand des bekannten ToM Tests (Theory of Mind – Theorie des Denkens) wurde deutlich, dass neurotypische Kinder sich bereits im Alter von 4 Jahren in jemanden hineindenken können, der etwas anderes weiß als sie selbst. Für Kinder mit Autismus ist es auch in höheren Altersstufen schwer, sich in die Perspektive eines anderen hineinzudenken (Korkmaz, 2011).  

  • So können junge Kinder sich nicht richtig verstecken, da sie nicht berücksichtigen, dass der andere sie sieht, auch wenn sie ihre Augen zuhalten oder dass der Mitspieler weiß, wo sie sich schon einmal versteckt haben. 
  • Auch für ältere Kinder und Jugendliche sind lügen, jemanden täuschen, sich schämen oder ein Geheimnis behalten oft erst nach Anleitung möglich. 
  • Gleiches gilt für Interessen, Faszinationen und Meinungen, von denen viele Betroffene annehmen, dass doch jeder ihre Meinungen teilen muss. 
  • Auch Unterhaltungen sind stark abhängig davon, dass man das Vorwissen, die Meinungen und die Interessen des Gesprächspartners mit einbezieht.  Auch hier gibt es oft Bedarf, um Ausgrenzungen und Missverständnissen vorzubeugen.